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Der Junge mit den schwarzen Zähnen

Eine Geschichte über mein nachdenklichstes Erlebnis auf Reisen. Ein Foto von Beo

Ich habe insgesamt ein Jahr in Chile studiert und in den Semesterferien hatte ich fast drei Monate Zeit zum Reisen. Dabei habe ich viel gesehen und erlebt, mein nachdenklichstes Erlebnis hatte ich dabei in La Paz, die heimliche Hauptstadt von Bolivien. Eine kurze Geschichte über meine Begegnung mit Jorge, der Junge mit den schwarzen Zähnen.

 

Mein Beitrag zur Blogparade „Mein nachdenklichstes Erlebnis auf Reisen“.

 

Mit einem leichten Kater wache ich auf. Es ist 08:23 Uhr, als ich mir den Schlaf aus den Augen reibe. Der Raum ist immer noch dunkel, nicht alle Zimmer der Residencia haben ein Fenster. Aber bei umgerechnet 5 €/Nacht sollte man ja nicht all zu hohe Ansprüche haben.

Meine Residencia liegt in der Calle Paredes. Heute scheint zum ersten Mal morgens die Sonne, gestern hat es am Abend noch in Strömen geregnet.  Es herrscht schon ein sehr geschäftiges Treiben, viele fliegende Händler sind dabei, ihre Waren auf einer Decke auszubreiten.  Ein hupendes Auto, laut durcheinander rufende Verkäufer. Touristen, welche die feilgebotenen Waren kurz begutachten und dann weiterziehen. Genervte Blicke unter den Händlern. Willkommen in La Paz.

Der Mercado in der Calle Paredes
Der Mercado in der Calle Paredes

 

Ein Latte Macchiato für nur einen Euro

Ich bestelle in einem Bistro ein American Breakfast, der Latte Macchiato kostet nur einen Euro. Als ich das Bistro verlasse, da streckt mir ein bärtiger Mann seine zitternde Hand entgegen. Ich gebe ihm drei Bolivianos, der Mann lächelt zahnlos und geht weiter. Ich lasse mich treiben und nehme meine Umgebung in mir auf. Viele Bolivianas mit ihren weiten Röcken und den geflochtenen Haaren schauen mich von ihren Stand hoffnungsvoll an.

 

La Paz, die Stadt der Märkte

La Paz ist die am höchsten gelegene Metropole der Welt und die heimliche Hauptstadt Boliviens. Die Altstadt von La Paz ist quicklebendig und jederzeit in Bewegung. La Paz ist die Stadt der Märkte, diese verleihen der Stadt ein ganz besonderes Flair, sie bestimmen das Stadtbild von La Paz. Zahlreiche fliegende Händler haben hier ihren Stand, viele von ihnen reisen aus den Amazonastiefland nach La Paz, um ihre Waren ein- bis zweimal im Monat zu verkaufen. Der bekannteste und skurillste Markt findet sich dabei in der Calle Santa Cruz: der Zaubermarkt (Mercado de Hechicería), er wird auch Hexenmarkt (Mercado de las Brujas) genannt. Auf den Zaubermarkt werden allerhand Kuriositäten angeboten: Zaubertränke, Pastillen, Glücksbringer, Liebestränke, getrocknete Lama-Föten, Heilkräuter. Das Angebot ist verblüffend. Die Verkäuferinnen schauen mich verschwörerisch an und einige versprechen mir eine Lösung für alle meine Probleme. Sie haben wettergegerbte Gesichter, sie tragen eine Melone und einen weiten Rock, viele von ihnen lächeln mich scheinbar zahnlos an.

La Paz ist eine sehr lebendige, lebhafte Stadt
La Paz ist eine sehr lebendige, lebhafte Stadt

 

Eine typische Boliviana. Ein Foto von Beo
Eine typische Boliviana. Ein Foto von Beo

 

Getrocknete Lama-Föten. Eine der zahlreichen Kuriositäten auf den Zaubermarkt von La Paz. Ein Foto von Beo
Getrocknete Lama-Föten. Eine der zahlreichen Kuriositäten auf den Zaubermarkt von La Paz. Ein Foto von Beo

 

Angeblich besitzt La Paz auch einen Schwarzmarkt, hier nennen sie ihn Mercado negro. Ich streife umher, um den Schwarzmarkt aufzusuchen. Seltsam ist nur dass niemand zu wissen scheint, wo dieser Markt liegt. Ein älterer Herr fragt mich grinsend, ob ich meine geklauten Sachen suchen würde. Ich frage ihn zurück, ob er dort zufällig meinen geklauten Laptop verkauft. Der Mann geht lachend weiter.  Am Straßenrand sitzt eine Frau mit ihren Kindern, sie bettelt um Geld. Auf der Bank liegt ein Mann, er schläft seinen Rausch aus. Bolivien ist eines der ärmsten Länder von Südamerika. Es liegt auf der Hand, weshalb hier der Latte Macchiato nur einen Euro kostet.

 

Je höher du wohnst, desto ärmer bist du

Die Stadt liegt innerhalb eines Talkessels am Westrand der Ostkordillere auf dem Altiplano. Für die Bewohner von La Paz gibt es einge ganz einfache Regel: je höher du wohnst, desto ärmer bist du. Die Behausungen ziehen sich an den Hängen des Talkessels hinauf, in den niedersten Regionen der Stadt erheben sich majestätisch die höchsten Wolkenkratzer von La Paz. Zwischen den Wolkenkratzern im Talkessel und den höchstgelegenen kargen Behausungen an den Hängen von El Alto liegen 1000 Meter, es handelt sich um den weltweit größten Höhenunterschied innerhalb einer Stadt.

Aufgrund seiner Lage verfügt La Paz über das größte innerstädtische Seilbahnsystem weltweit. Ich nehme die rote Seilbahn, nach 15 min befinde ich mich in El Alto. Es ist sehr warm, ich wische mir den Schweiß von der Stirn.

Der Ausblick von El Alto auf La Paz, im Hintergrund erhebt sich der 6.439 m hohe Illimani.
Der Ausblick von El Alto auf La Paz, im Hintergrund erhebt sich der 6.439 m hohe Illimani.

 

Überall in La Paz liegt Armut

Hier oben in El Alto befindet sich der größte Freiluftmarkt weltweit. Es wird einfach alles verkauft, vom Angelhaken bis hin zum Zahnstocher. Ich fühle mich etwas unwohl und bedrückt, obwohl heute der erste sonnige Tag nach meiner Ankunft in La Paz ist. Liegt dies vielleicht an der offenkundigen Armut vieler Bewohner in La Paz? Viele blicken mich an und lächeln, doch bei knapp einem Drittel ist das Lächeln zahnlos oder schwarz – zahlreiche Zahnlücken blicken mich an wie ein Sinnbild von Armut und Trostlosigkeit, wie der Bühnenvorhang in ein anderes und für mich vollkommen unvorstellbares Leben.

Die Armut findet sich überall in La Paz. Sie blickt mich zahnlos lächelnd an, sie verkauft mir missgelaunt Gemüse in Gestalt der kräftigen Bolivianas mit ihren weiten Röcken und den wettergegerbten Gesichtern. Sie hat sich eingenistet in den unverputzten Häusern, sie blickt mir schamlos grinsend entgegen unter den grauen Wellblechdächern der Elendshütten von El Alto. Sie kaut Tabak aufgrund der Höhe von mehr als 4.000 Metern, sie verkauft mir Limonade, ungefähr 2 Liter für nur umgerechnet 40 Cent. Die Armut, sie versteckt sich auffällig unter zittrigen Händen, hinter angestrengten und von Alkohol gezeichneten Gesichtern. Sie spielt Fußball in Gestalt der Kinder mit ihren abgetragenen Sachen, sie übernachtet auf den Bürgersteig in Form der vielen Obdachlosen ohne Besitz. Die Armut blickt mir direkt ins Gesicht und bettelt mich um einige wenige Bolivianos an, um dann mit einem leisen Lächeln um die nächste Ecke zu verschwinden, wo sie wieder auf mich wartet. Ich begegne der Armut in Form vieler für mich ungreifbarer Schicksale, die mich bedrücken.

 

Der Junge mit den schwarzen Zähnen

Ich schaue mich auf den Freiluftmarkt um, in der Ferne liegt der frohlockende, schroffe Gipfel des 6.439 Meter hohen Illimani.  Im Talkessel liegt La Paz, eine einzelne an den Berghängen herabstürzende Blechlawine. Die herausragenden Wolkenkratzer liegen im Zentrum des Kessels, fernab von El Alto. Auf einer Brüstung nehme ich das Bild mit Staunen auf.

In diesem Moment zupft jemand an meinem Pullover. Zuerst erschrecke ich und mein erster Gedanke ist, ob gerade jemand versucht mich auszurauben und ich drehe mich erschrocken zur Seite. Vor mir steht jedoch nur ein kleiner Junge, er ist vielleicht 10 oder 11 Jahre alt. Der Junge grinst mich an, er hat dunkelbraunes Haar und ein rundes Kindergesicht. Er fragt mich:

De dónde eres ?

Darauf antworte ich:

Yo soy de Alemania!

 

Der Junge lächelt, es ist eigentlich ein schönes und jungenhaftes Lächeln. Trotzdem zieht sich mein Magen zusammen, als ich sein Lächeln sehe. Eine tiefe Traurigkeit packt mich, als ich sein Gesicht betrachte. Das Lächeln des Jungen ist schwarz, in der oberen Zahnreihe klafft mir eine große Lücke entgegen.

Wie kann das sein, frage ich mich. Wie kann man in diesem Alter schon schwarze Zähne haben? Ich fühle mich unwohl, doch der Junge lächelt und lächelt. Ich frage den Jungen nach seinem Namen, er heißt Jorge. Jorge trägt dreckige Jeans und einen abgenutzten Pullover, oft streicht er sich beim Sprechen eine Haarstähne aus dem Gesicht. Jorge beäugt mich mit der typischen Neugierde eines Kindes, er fragt mich aus. Nach einigen Minuten dreht der Junge sich um und zeigt auf eine Häuserzeile. Ich staune und hoffe inständig, dass Jorge nicht in 10 Jahren auch betteln muss.

Yo vivo alli. Dort lebe ich.

Es ist eine ärmliche Blechhütte und ich habe Mitleid mit Jorge, doch der lächelt unbeirrbar. Als sich die Sonne den Horizont nähert und der Himmel in einem kräftigen Orange aufleuchtet, da geht Jorge. Er strahlt über das ganze Gesicht, als ich ihm meine Limonade schenke. Sprachlos und nachdenklich wünsche ich Jorge noch einen schönen Abend.

Ich kann die gesamte Nacht kaum schlafen und liege nachdenklich wach. In Gedanken sehe ich die schwarzen Zähne von Jorge vor Augen. Ich sehe seine Hütte und sein immerwährendes Lächeln.

 

Was sich geändert hat

Was hat sich für mich geändert seit der Begegnung mit Jorge? Ich würde sagen, dass ich aufmerksamer reise und häufiger Dinge hinterfrage. Ich empfinde nicht mehr nur die pure Freude, wenn eine 3 L Limonade lediglich 40 Cent kostet.  Ich hinterfrage mich häufiger, wenn ich in einem anderen Land etwas kaufe. Wem helfe ich mit diesem Kauf? Ich bin neugieriger, bei Gelegenheit lade ich auch mal jemanden zum Essen ein. Wie könnte man denn besser etwas über die betreffende Person erfahren? Manchmal sehe ich noch das Gesicht des Jungen vor mir und dann frage ich mich, wie es ihm wohl geht.

Ich bin am nächsten Tag nochmal zur Brüstung zurückgekehrt in der Hoffnung, nochmal auf Jorge zu treffen. Leider habe ich Jorge nie wieder getroffen. Oft frage ich mich, wie es ihm wohl geht und was er macht. Ob er zur Schule geht? Ob er Geschwister hat?

Wenn ich darüber nachdenke, dann wird mir vor allem eines klar: Es ist ein Privileg ein Europäer zu sein. Es ist ein Privileg, reisen zu dürfen und sich dabei keinerlei Gedanken machen zu müssen. Es ist ein Privileg, sich weltweit ohne größere Bedenken bewegen zu können. Es ist ein Geschenk, wenn man sich jederzeit eine Limonade für 40 Cent leisten kann, um Kindern wie Jorge ein unvergessliches Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Es ist ein Geschenk von unschätzbaren Wert, wenn man wie ich im Ausland studieren kann, um die Sprache zu lernen. Ich habe dieses Privileg,  ich bin ein Mensch voller Privilegien.  Noch größer sind diese Privilegien jedoch, wenn wir sie manchmal miteinander teilen.

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6 Kommentare zu Der Junge mit den schwarzen Zähnen

  1. Du sprichst mir aus der Seele. Auch wenn ich Jorge nicht kenne und ihn vermutlich auch niemals kennen lernen werde, habe ich solche und ähnliche Begegnungen schon so häufig erlebt und ich jedes mal daran erinnert wie gut es uns geht. Seit über einem jahr reise ich nun schon mit meinem kleinen Sohn durch Asien und dabei haben wir auch ganz wenig bis gar kein Geld im Gepäck. Das bringt uns dazu, noch viel enger mit den ärmeren Menschen in kontakt und dabei erfahren wir oft die tollsten Geschichten und erleben einen Zusammenhalt, von dem sich viele Menschen eine dicke Scheibe abschneiden können.

    • Hi Stephie,

      danke für deinen Kommentar.

      Ja das stimmt. Gerade Menschen, die nichts oder nur sehr wenig haben, sind viel eher zum Teilen bereit. Das ist eine Erfahrung, die ich auf Reisen und im Leben schon öfters gemacht habe.

      Ich wünsche Dir und deinen Sohn noch eine wunderbare und erlebnisreiche Reise =).
      Paul

  2. Hi Paul,

    Du schreibst ganz toll, ich musste glatt eine Träne verdrücken, weil ich mich so gut in die Situation hineinfühlen konnte.

    Ich überlege welche Geschichten ich erlebt habe, denn ich würde gern an Deiner Blogparade teilnehmen. Vielleicht fällt mir noch was ein.

    Mach weiter so, Viele Grüße, Nina

  3. Hi Paul, ein wirklich toll geschriebener Artikel, der zum Nachdenken anregt, ohne dabei zu wertend oder urteilend zu sein.
    Ich hatte erst bei meiner letzten Reise jetzt im September ein ähnliches Erlebnis als ich mit dem Thema Armut an einem Ort konfrontiert wurde, an dem ich so gar nicht damit gerechnet hatte. Darüber wollte ich ohnehin schreiben, ich poste Dir dann den Link dazu in die Kommentare des Blogposts zur Blogparade. Lieben Gruß, Katrin

  4. Hallo Paul,
    Ja, Dein Artikel geht ans Herz, ich war auch sehr davon betroffen. Es ist gut, Deine Gedanken zu lesen. Leider gibt es noch viele Reisenden, die das nicht ganz so sehen, sondern eher für sich den günstigsten Preis möchten.
    Wo immer wir reisen, einen lokalen Guide zu nehmen, oder ein Pferd zum Wandern, all das macht Einkünfte für die Menschen, die in unserem Urlaubsort leben.
    Herzliche Grüsse aus Peru,
    Martina

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  1. Mein nachdenklichstes Erlebnis auf Reisen – Aufruf zur Blogparade – adventureluap.de

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